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  • AutorenbildStephanie Kuhlmann

Ihr traurigen Kasper!


Sonntag in Nürnberg, frei, schönes Wetter! Mit den "lustigen Nibelungen" in der Tasche in die Stadt, bei Aperol Spritz im Sonnenschein den gestrigen Durchlauf nochmal Revue passieren lassen - so lässt sich's leben und arbeiten.

Ein Stündchen später: an einem Straßenkünstler im Bob Marley Stil, der von Freiheit, Liebe und Frieden singt, gehe ich vorbei zur Lorenzkirche, wo die Rechte eine Kundgebung angekündigt hat. Auf den Tag genau 70 Jahre nachdem zehn NS-Kriegsverbrecher im Zuge der Nürnberger Prozesse hingerichtet wurden, marschieren in dieser Stadt überheblich grinsende Rechte auf und schwenken die preußische Reichsflagge, es ist nicht zu fassen! Viel zu sagen haben sie wohl nicht, und Probleme mit der Technik gibt es wohl auch. Mit fast 45minütiger Verspätung beginnt die "Kundgebung" - und wird komplett überdeckt von Pfeifen, Singen und Trommeln der zum Glück zahlreich erschienenen Gegendemonstranten. Von links erschallen die Beatles mit "Love, Love, Love", rechts von mir werden die Rechten nach Hause geschickt und hinter mir ertönt es laut und trocken: "Ihr traurigen Kasper" - ein Ausruf, der die ganze Verachtung diesen Idioten gegenüber ausdrückt.

Mittendrin ich, in der Tasche und im Kopf noch immer die "lustigen Nibelungen"!

Ein Stück, welches in der wilhelminischen Zeit deutsche Kraftprotzerei , nationalen Selbstbehauptungswahn und poetisch verklärten Germanenkult satirisch aufs Korn nimmt - und deshalb in der Premiere beim Publikum mit Pauken und Trompeten durchfiel.

Ein Stück, das vor nationalen (und später nationalsozialistisch missbrauchten) Kulturheiligtümern wie dem mittelalterlichen Nibelungenlied und Wagners "Ring" nicht halt macht und deren Protagonisten als mittelständische spießige Operettenfamilie im Germanenkostüm porträtiert, die eher genussfreudigen Urmenschen denn hehren Helden gleichen.

Ein Stück, welches seinerzeit von den Nationalsozialisten verboten wurde, denn über den deutschen Nationalmythos macht man sich nicht lustig.

Und vor mir stehen die Rechten und schwenken selbstverliebt, arrogant und in aller Ruhe ihre Reichsflaggen. Und ich frage mich, wie so viel Ignoranz und Dummheit überhaupt möglich ist. Wie ist es möglich, aus unserer Geschichte nichts, aber auch garnichts zu lernen, im Gegenteil, sie wieder heraufbeschwören zu wollen?

Und wie stellt man sich dagegen, außer mit Trillerpfeifen und Parolen? Wie stelle ich mich dagegen mit einem Stück, welches, obwohl über ein Jahrhundert alt, plötzlich wieder aktuelle Verhaltensmuster karikiert?

Die Operettenfamilie wirkt in ihrer überzogenen Charakterisierung lächerlich komisch, trotz hoch aufstrebender Pläne und Ziele handlungsunfähig, von ihrer Hemdsärmeligkeit geht keinerlei Gefahr aus - und am Ende sind sie in all ihrer Lächerlichkeit und Machtlosigkeit entlarvt.

Die Männer, die mir gegenüber stehen, lassen sich nicht so einfach weglachen. Sie sind mit ihrem protzigen Auftreten ebenso ihre eigenen Karikaturen, wirken ebenso lächerlich, aber komisch ist das ganz und gar nicht.

Traurige Kasper sind sie allesamt!


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