Inspirierendes Theater von Forced Entertainment

In Zeiten von Netflix und Serien-Marathons tourt die britische Performance-Gruppe Forced Entertainment mit einem Format, das sich dieser Sehgewohnheiten bedient - und ihnen doch gleichzeitig vehement wiederspricht.
Shakespeares gesammelte Werke im Serien-Format, 36 Stücke in Episoden-verträglicher Länge von 45-60 Minuten, verteilt über neun Abende. Man kann sich einzelne Stücke anschauen, den ganzen Abend dort verbringen oder auch jeden der neun Abende. Für Freunde des bingewatching gibt es ein Sonderangbot: Wer fünf Karten vorweisen kann, bekommt die sechste umsonst. An der Abendkasse. Darauf lässt man es aber besser nicht ankommen, denn die Verfügbarkeit ist begrenzt, die Vorstellungen sind fast alle ausverkauft.
Damit sind dann die Gemeinsamkeiten zum Serienformat aber auch erschöpft, denn anders als bei "Game of Thrones" und Co. gibt es hier keine spektakulären Sets, keine aufwändigen Kostüme, nicht mal Schauspieler im eigentlichen Sinne. Die Bühne besteht aus einer einzigen Tischplatte, rechts und links stehen Metallregale, in denen die Protagonisten der 36 Stücke auf ihren Auftritt warten: Getränkeflaschen, Reinigungsmittel, Wolle, Vasen, Kerzenständer, Glühbirnen, Lockenwickler und was der Haushalt sonst noch so hergibt. Richtig gelesen, mit diesen Haushaltsgegenständen erwecken die Performer von Forced Entertainment die Stücke Shakespeares zum Leben - und wie sie das tun, das ist ganz, ganz großes Theater.
Das fängt bei der Idee an und geht weiter mit den großartigen Textfassungen der Stücke. Shakespeares komplizierte Handlungen mit ihren vielen Wendungen auf eine Stunde einzudampfen, das ist an sich schon eine Leistung. Das Ganze dann aber auch noch in einfachem, verständlichen Gegenwartsenglisch zu tun, das einen Richard III auch mal ein lakonisches "I can't believe I got away with that" sagen lässt, nachdem er seine verwitwete Schwägerin Anne überredet, ihn zu heiraten - das ist genial. Zumal bei allen Aktualisierungen ("They come here and take away our jobs and women") und Vereinfachungen ("Think of the money" - "Good Point") immer die Struktur und der Bezug zum Originaltext erhalten bleibt, das Ganze trotz Witz und Flapsigkeiten ("And he gives him a jolly good beating") nie in Albernheit und Respektlosigkeit abdriftet.
Alles hat Bedeutung, nichts geschieht einfach so, gedankenlos. Das zeigt sich vor Allem in der Wahl der Protagonisten der einzelnen Stücke. Da wird die wenig begünstigte Stiefschwester der schönen Prinzessin mal eben als Klopapierrolle dargestellt, die Courtisane der Stadt ist ein Parfum-Flakon und die zwei kleinen Neffen Richard des Dritten zwei identische Pritt-Stifte, die sich mitsamt ihrer Schwester, einem Fläschchen Nagellack von ihrer Mutter in Form einer bauchigen Tasse beschützen und umhertragen lassen. Der französische König ist eine Glühbirne, dem mit den Worten "I have an idea" auch gleich die Erleuchtung kommt. Ein französischer Freier wird von einem Glas Dijon-Senf dargestellt, der Prolog tritt als bierselige Bierflasche auf, zwei Sklaven werden als eineiige Zwillingsschwämme von ihren Herrschern, eineiigen Zwillingskerzenständern ordentlich verprügelt.

Und alles macht irgendwie Sinn, alles erzählt sich, die Gegenstände erwachen durch ihre Spieler zum Leben und plötzlich sieht man nicht mehr den Performer hinter dem Tisch, hört nicht mehr die Stimme eines Erzählers, sondern die der Figuren. Plötzlich sieht man eine große Flasche Himbeergeist resigniert aufgeben, eine Flasche Tabasco verliebt vor sich hinstammeln, ein Päckchen Streichhölzer panisch zittern. Man ist gerührt, wenn sich Salz- und Pfefferstreuer nach langen Irrungen und Wirrungen wiederfinden und wartet hoffnungsvoll auf ein Zeichen des Mitleids in der Mimik eines leeren Bilderrahmens.
Und damit wiederspricht dieses Format vehement dem Serientrend: hier zählt schließlich das, was durch die Kunst der Performer im Kopf der Zuschauer entsteht. Das ist Theater, das im allerbesten Sinne die Fantasie anregt, denn alles scheint plötzlich möglich auf der unbegrenzten Bühne dieser Tischplatte.
Das ist die Magie des Theaters!